6. Juli 2006:
Offener Brief an Bernhard Pulver zum Thema "Homosexualität und Schule"
Lieber Bernhard Pulver
Am 16. November 2005 hat die Junge Alternative JA! zusammen mit dir sowie
mit abq und BeGes einen runden Tisch zum Thema „Homo- und Bisexualität und
Schule“ organisiert. Daran nahmen GrossrätInnen aus verschiedenen
politischen Parteien teil, unter anderen auch du, damals noch als Grossrat
der Grünen Freien Liste Bern. Für uns alle war klar, dass Verbesserungen
anstehen, damit Homo- und Bisexualität an den Schulen thematisiert wird und
den Jugendlichen das „Coming-Out“ erleichtert wird. Dabei haben wir
gemeinsame Forderungen und Fragen formuliert – du hast sie dann in Form
einer Interpellation an den Regierungsrat gerichtet.
Mit Befremden stellen wir fest, dass du nun deine eigene Interpellation in
höchst ausweichender Art und Weise beantwortet hast.
Wir zitieren aus deiner Antwort:
3. Homosexualität ist im Lehrplan für das 7. – 9. Schuljahr obligatorischer
Unterrichtsinhalt; er ist eingebettet in einen grösseren thematischen
Zusammenhang im Rahmen des Themenfeldes „Ich selber sein – Leben in
Gemeinschaft.“ Damit ist die Auseinandersetzung mit dem Thema „Homo- und
Bisexualität“ gewährleistet.
Es ist zwar richtig, dass Homosexualität im Lehrplan als Teil einer
grösseren Einheit erwähnt wird, doch ist die Behandlung des Themas
keinesfalls obligatorisch für die Lehrkräfte. Die Realität zeigt auch, dass
heute nur ein geringer Teil der Kinder und Jugendlichen in ihrer
obligatorischen Schulzeit etwas über Homosexualität erfahren. Die meisten
Lehrpersonen haben Schwierigkeiten darin, Homo- und Bisexualität im
Unterricht anzusprechen, wie die Lizentiatsarbeit von Mirjam Wyrsch zeigt.
Somit ist die Auseinandersetzung mit dem Thema Homo- und Bisexualität in
keiner Weise gewährleistet.
4. Die Inhalte der Sexualpädagogik sind Bestandteil der Ausbildung der
Lehrerinnen und Lehrer an der Pädagogischen Hochschule. Einzelne Institute
ziehen Fachreferentinnen und Fachreferenten der Berner Gesundheit bei. Die
Frage der sexuellen Identität wird in allen Ausbildungsgängen thematisiert.
Es ist sichergestellt, dass die Studierenden für die Schwierigkeiten
sensibilisiert werden, mit denen homo- und bisexuelle Jugendliche bei der
Suche nach ihrer sexuellen Identität und deren Anerkennung – gerade auch
durch die Mitschülerinnen und Mitschüler – konfrontiert sind.
Wie die Realität zeigt und wie auch in der Lizentiatsarbeit von Mirjam
Wyrsch festgehalten, sind Lehrpersonen nur dann befähigt, offen und
vorurteilsfrei über Sexualität und im Besondern über Homo- und Bisexualität
zu sprechen, wenn sie eine umfassende sexualpädagogische Ausbildung genossen
haben. Wird das Thema innerhalb der ganzen Ausbildung nur kurz am Rande
angeschnitten, ist damit sicherlich nicht gewährleistet, dass die
Studierenden für den Umgang mit Homo- und Bisexualität sensibilisiert
werden.
5. Für die Sexualerziehung gibt es zahlreiche Unterlagen und Lehrmittel, in
denen auch die Homosexualität thematisiert ist. Die Erziehungsdirektion ist
der Meinung, dass Sexualerziehung in der Schule in einen umfassenden
Lebenskunde- und Ethikunterricht eingebettet werden soll. Sollten neue
Unterrichtsmaterialien zur Sexualerziehung entwickelt werden müssen, so ist
dies nur in einem gesamtschweizerischen Projekt sinnvoll. Der
Erziehungsdirektion sind keine entsprechenden Projekte anderer Kantone
bekannt. Sie klärt jedoch ab, ob in interkantonaler Zusammenarbeit eine
stufengerechte Broschüre zu Fragen der sexuellen Orientierung hergestellt
und zur Verfügung gestellt werden kann.
In der Interpellation wurde eine stufengerechte Broschüre gefordert, welche
den Jugendlichen ohne Bedenken abgegeben werden kann. Es wäre wünschenswert,
wenn der Kanton Bern in dieser Frage eine Vorreiterrolle übernehmen würde,
anstatt sich hinter der interkantonalen Zusammenarbeit zu verstecken.
Des Weiteren erwarten wir von dir als Regierungsrat, dass du dich dafür
einsetzt, dass abq (Schulprojekt Gleichgeschlechtliche Liebe Bern) endlich
offiziell anerkannt und finanziell unterstützt wird.
Zum besseren Verständnis legen wir sowohl die Interpellation als auch deine
Antwort bei. Die Nummerierungen in unseren Zitaten beziehen sich darauf.
Interpellation und Antwort hier als pdf
Rund um die Diskussionen mit dir vor dem runden Tisch, haben wir den
Eindruck erhalten, dass dir das Thema am Herzen liegt. Deshalb hoffen wir,
dass wir von dir eine Stellungnahme zu den genannten Punkten erhalten.
Mit herzlichen Grüssen
Für die Junge Alternative JA!
Anne Wegmüller und Rahel Ruch
|